Liebe Mitbürger:innen,
die Vorfälle der Mahnwache auf dem Mannheimer Marktplatz nach dem tödlichen Messerangriff am 31. Mai 2024 haben uns eindrücklich vor Augen geführt, wie sehr wir in unserer demokratischen Praxis gefordert sind und wie oft wir dabei Fehler machen, die unserer Demokratie schaden. Einerseits gibt es große zwischenmenschliche Herausforderungen, andererseits mangelt es an demokratischer Haltung und angemessenem Handeln im Sinne unserer demokratischen Werte.
Hintergrund der Mahnwache
Circa 1000 Menschen kamen am 2. Juni 2024 nach dankenswertem Aufruf des Mannheimer Stadtrates zu einer Mahnwache zusammen, um als Gegengewicht zur Kundgebung der Jungen Alternative für die Demokratie einzustehen und gegen Gewalt aktiv zu werden. Zwei Tage zuvor hatte ein Mann bei einer Demonstration Menschen mit einem Messer verletzt, darunter ein junger Polizist, der inzwischen an seinen Verletzungen verstorben ist. Es herrschte eine gleichermaßen bedrückte wie friedliche und solidarische Stimmung. Als eine maskierte Gruppe mit einer schwarzweißen und vielen roten Fahnen sowie bengalischen Fackeln auf den Marktplatz stürmte und sich den gerichtlich anerkannten, rechtsextremen Jungen Alternativen der Nebenveranstaltung näherte, griff die Polizei rasch ein, sodass die Demonstrationen weitergeführt werden konnten. Die Meinungsfreiheit wurde gewahrt, was ein Zeichen der Demokratie ist. Der Marktplatz, seit Jahrhunderten ein Ort des Meinungsaustauschs, für menschen- und religionsfeindliche Kundgebungen zu nutzen mag provokant sein, aber es zeigt, dass Meinungsfreiheit überall und immer gilt.
Fehler in unserem demokratischen Handeln
Trotz dieser positiven Aspekte gibt es deutliche Hinweise darauf, dass wir in unserem demokratischen Handeln große Fehler machen und zur Spaltung der Gesellschaft betragen. Die Aussage „Wir hassen nicht. Das tun die anderen.“ schafft Feindlichkeit und Spaltung, auch wenn das ein Versuch der Deeskalation gewesen sein soll. Ein weiterer Hinweis auf antidemokratisches Verhalten ist die subtile Gewalt, wie sie von der AntiFa ausgeht, die bedrohlich wirken will. Ihr Aufmarsch ist keine Demonstration im demokratischen Sinne, sondern antidemokratisches Handeln durch Einschüchterung. Subtile Gewalt kam auch von vielen Menschen der Mahnwache, die mit Lautstärke die Äußerungen anderer zu übertrumpfen versuchten. Andere Stimmen durch die eigene Lautstärke zu stören, bedeutet, anderen den Raum für ihre Meinungskundgebung zu verbieten. Parolen wie „Nazis raus“ und störende Gegendemos verletzen die Grundrechte der Menschen. Menschen mit nationalsozialistischen Ansichten dürfen hier sein und frei reden, solange sie nichts Illegales tun. Durch dieses antidemokratische Verhalten haben wir den Verfassungsfeinden noch mehr Grundlage gegeben, um unsere Demokratie als heuchlerisch zu verstehen.
Lernen aus unseren Fehlern
Unsere Verfehlungen bei der Mahnwache in Mannheim zeigen uns als Gesellschaft, was der Demokratie abhanden kommt: das aktive Handeln nach den demokratischen Grundwerten in jeder unserer Handlungen im Miteinander. Wir kommen doch eigentlich zusammen, um für die Grundrechte einzustehen? Stattdessen verlieren wir uns im Gegenprotest und setzen uns „gegen“ Dinge ein, ohne uns für etwas zu engagieren. Bitte lasst uns eingestehen, dass wir Demokraten uns heute beim Scheitern zugesehen haben. Dabei ist es unsere Verantwortung, die Demokratie zu leben – „wir“ sind alle Bürger:innen der Demokratie, und dazu zähle ich auch unseren veranstaltenden Stadtrat.
Was ich mir für die Mahnwache gewünscht hätte
Demokratie zu leben bedeutet vor allem, aktiv Wertschätzung für andere Menschen im Sinne der Achtung ihrer Würde zu zeigen. Daraus resultiert logisch, dass wir ihre Rechte auf Freiheit und Gleichheit aktiv achten müssen. Bei der Mahnwache hätten wir bedenken müssen, dass friedliche Demonstrationen legal und demokratisch sind und dass wir per Recht jedem den Raum dafür geben müssen. Wir hätten die AFD-Demo zu diesem Zeitpunkt tolerieren sollen, solange der Verein der Jungen Alternativen nicht verboten ist. Stattdessen hätten wir die Mahnwache aufrechterhalten und fördern sollen, um unsere Werte zu zeigen. Es hätten noch mehr Menschen als die 1000 sein können. Wir hätten die Energie in unsere Kundgebung stecken können. Es ist besser, alle Menschen zu einer Veranstaltung zu halten, als keine Demo zu haben. Leider hat sich die Kundgebung bzw. Mahnwache sehr schnell auflösen lassen. Für mich war das der schlimmste Moment. Ich habe quasi zugesehen, wie unser Zusammenhalt zerfiel. Wahrscheinlich hatten einige Menschen Angst und sind geflüchtet, aber der größte Teil hat nicht mehr für etwas gestanden, sondern in Parolen gegen „die anderen“ skandiert. Ich war erschrocken, hilflos und traurig.
Zukunft der demokratischen Kultur
In Zukunft können wir die demokratische Kultur nur erhalten, wenn wir aktiv und intensiv das wertschätzende Gespräch führen, insbesondere mit den Menschen anderer Meinung und anderer Eigenschaften. Daraus resultiert die Kraft, die Solidarität, die den demokratischen, gesellschaftlichen Wandel antreibt.
Dass es so viele Proteste gegen unsere Grundwerte gibt, darf uns beunruhigen. Wir dürfen auch besorgt sein deswegen. Wir müssen uns zum Erhalt unserer Werte aktiv einsetzen. Wir sollten diesen in jeder Weise und stets treu bleiben, damit wir sie sichtbar machen und andere davon überzeugen. Was unsere Grundwerte ausmacht, zeigt sich durch das aktive füreinander Sorgen, das einander aktiv Zuhören und sich persönlich Öffnen. Dem Einsatz füreinander aus Überzeugung von Würde, Gleichheit und Freiheit. Natürlich müssen wir auch Grenzen aufzeigen! Aber bitte nicht so übereifrig und vorschnell wie jetzt, sodass wir unsere Werte dabei vergessen zu (er)leben und uns verfeinden. Lasst uns stattdessen viel mehr demonstrieren für das Wohl aller und dazu auf die Menschen aktiv zugehen, um zu verstehen, wofür wir demonstrieren wollen und was wir ändern müssen. Denn Demokratie bedeutet im Kern, auf Augenhöhe eine Beziehung zu führen, die den Menschen gleichermaßen gerecht wird und Kompromisse hat.
Ein persönlicher Aufruf
Zugegeben, das ist schwer und ein Überforderungsgefühl kommt schnell angesichts großer internationaler Konflikte, dem Klimawandel und Fluchtbewegungen, die unsere bisherige Lebensweise irritieren. Es ist schwer, neben dieser ganzen Arbeit und dem Konkurrenzdruck und dem Materialismus sowie dem verrohenden Diskurs zusammenzufinden. Aber der Aufwand ist der Preis der Demokratie. Der Preis von Frieden und Freiheit. Es ist unsere Verantwortung, jetzt die Prioritäten zu entscheiden und dafür zu handeln.
Ich bitte Sie, dass Sie sich einmal Ihr persönliches Demokratie-Kuchendiagramm aufmalen: Wie viel Anteil Ihres Lebens verbringen Sie damit, Ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche Menschen in konkreter Weise zu offenbaren, die sich Ihrer Meinung nach persönlich von Ihnen unterscheiden? Wie viel Achtung bringen Sie Menschen anderer Meinung aktiv zum Ausdruck? Wie sehr fühlen Sie sich als Mensch verbunden mit Menschen, die Ihnen persönlich anders vorkommen oder anderer Meinung sind? Wie viel Zeit verbringen Sie stattdessen damit, sich gegen diese Menschen zu positionieren, ohne vorher den ernsthaften Versuch der Einfühlung vorgenommen zu haben? Oder wie wenig haben Sie Kontakt zu den „anderen“ Menschen?
Wir Demokraten scheitern, wenn wir die Würde, Gleichheit und Freiheit anderer nicht aktiv fördern, schützen und achten. Es ist unsere Verantwortung diese Werte zum Ausdruck im Kontakt und Leben zu bringen. Davon hängt unsere Demokratie ab.
Mit wertschätzenden Grüßen
Ihr Mitmensch, der Sie bedingungslos wertschätzt, und nicht Sie sondern Ihr Handeln als problematisch für die Demokratie darstellt.